21.06.2022 - München
Unter dem Motto "Kein Ding ohne Ing." stellt die Bayerische Staatszeitung auf einer Sonderseite regelmäßig spannende Projekte von Kammermitgliedern vor. Im neuesten Artikel berichten Rainer Böhme und Norbert Nieder von der Konstruktionsgruppe Bauen AG über die Instandsetzung der denkmalgeschützten Stampfbetonbrücke Illerbeuren und wie aus der unscheinbaren und nur noch bedingt tragfähigen Brücke ein Schmuckstück des 146 km langen Iller-Radweges entstanden ist. Lesen Sie hier den Artikel oder reichen Sie gleich selbst ein Projekt ein.
Die Illerbrücke Illerbeuren ist einzigartiges Beispiel deutscher Ingenieurbaukunst des frühen 20. Jahrhunderts. Dieses inzwischen denkmalgeschützte Kleinod galt bereits bei der Fertigstellung im April 1904 als „sehr bedeutendes Beispiel einer Eisenbahn-Betonbrücke, die damit alle bisher erbauten reinen Betonbrücken übertrifft…“1. Sie war bis zum Bau der Oberen Illerbrücken in Kempten die am weitesten gespannte Stampfbetonbrücke der Welt.
Die ehemalige Eisenbahnbrücke liegt zwischen Illerbeuren und Lautrach im Unterallgäu und ist ein Zeugnis der Stampfbeton-Bauweise, die mit dem Aufkommen des Stahlbetons Anfang des 20. Jahrhunderts verdrängt wurde. Stahl wurde hier nur an den drei Gelenken (Scheitel und Kämpfer) sowie beim Geländer verwendet. Das Bauwerk war Bestandteil der 16,8 km langen Bahnlinie Memmingen - Legau und gleichzeitig die größte von sieben Brücken auf der Strecke. Dass die Illerbrücke als Baudenkmal heute noch existiert, verdankt sie einem Lautracher Ehepaar, das zum Ende des 2. Weltkriegs durch mutiges Verhalten eine Sprengung durch die deutsche Wehrmacht verhindern konnte.
Die Bahnstrecke, im Volksmund „Legauer Bähnle“ genannt, galt seit ihrer Stilllegung 1972 als sichtbares Zeichen des Strukturwandels in der Region. Durch den zunehmenden Individualverkehr wurde sie obsolet. 1975 überließ die Deutsche Bundesbahn dem Landkreis Unterallgäu die Brücke kostenlos und die gesamte, rückgebaute Bahntrasse zu einem symbolischen Preis.
Ein Rad- und Wanderweg von Lautrach bis Illerbeuren wurde eröffnet. Die „Illerbrücke Illerbeuren“ wurde zwar genutzt, fiel jedoch in einen „Dornröschenschlaf“. Eindringende Feuchtigkeit schädigte das Bauwerk zusehends. Im Januar 2016 fassten die Mitglieder des Unterallgäuer Kreistags den Beschluss zur Instandsetzung der Brücke. Die Auftragsvergabe erfolgte im Februar 2017. Von April 2017 bis März 2019 wurde die Illerbrücke Illerbeuren in zwei Bauabschnitten saniert und damit zu einem Denkmal der Verkehrsgeschichte.
Den einstigen Planern des Ingenieur-Bureaus der General-Direktion der königlich bayerischen Staatseisenbahnen war es wichtig, die Brücke in einem einzigen Bogen über die Iller zu spannen, um bei Hochwasser mögliche Aufstauungen durch Verklausungen zu vermeiden. Auch wollte man von möglichen Sohlvertiefungen unabhängig sein.
Eine massive Stampfbetonbrücke dieser Dimension und Ausführung war vor gut 100 Jahren eine Besonderheit. Anstelle der ursprünglich geplanten, mehrgeschossigen Übermauerung des Hauptbogens kam der Sondervorschlag der bauausführenden Firma zur Umsetzung: eine Auflösung in halbkreisförmig endenden Entlastungsbögen, senkrecht zur Brückenachse.
Als baukulturelles Verkehrsbauwerk bettet sich die massive Brücke mit ihrer Gesamtlänge von 90 m, einer lichten Weite des Hauptbogens von 59 m und einer lichten Höhe von 13 m harmonisch in die umgebende Iller-Landschaft ein und besticht durch ihre differenzierte architektonische Gestaltungsqualität. Bei der Eröffnung 1904 war die Brücke damals die weltweit größte ihrer Art. Der visuell herausstechende Hauptbogen, die 222 Gesims-tragenden und gestalterisch charakteristischen Konsolköpfe, die bewusst sichtbar gelassenen Stampffugen und der Verzicht auf die Bearbeitung der signifikanten Oberflächenstruktur des Stampfbetons machen das Bauwerk einzigartig und unverwechselbar und tragen zur größtmöglichen Echtheit bei.
Der Planungsansatz für die Instandsetzung geht auf vertiefte Bauwerksprüfungen der Jahre 2007 bis 2016, Nachrechnungen des Bestandsbauwerks sowie die Ergebnisse der Objekt- und Tragwerksplanung zurück. Die Schadensanalyse erfolgte dabei „schwebend“ am Klettergurt, da schwere Geräte die Brücke nicht befahren durften. Bei den Bauwerksprüfungen zeigte sich, dass insbesondere der Wasserzutritt von oben in den Stampfbeton Schäden durch Auswaschung und Frost verursacht hatte.
Als wirtschaftliche, effiziente und innovative Untersuchungsverfahren kamen
Radar-Messungen, die bis in die Tiefe des grobporigen Betons vordringen, das
Monitoring schadhaft-rissiger Stellen durch Ultraschall-Echo und auch einige
Bohrkernentnahmen zur Anwendung.
Die Brücke wurde mit einer 3D-Finite-Elemente-Software unter Einbeziehung der gewonnenen Erkenntnisse und lokalen Schäden modelliert und die Tragfähigkeit mittels nichtlinearer Berechnungen nachgewiesen. Auch die Bauzustände, Temperatureinflüsse und Zwangsbeanspruchungen aus der neuen Fahrbahnplatte flossen in die Berechnungen mit ein. Dadurch konnte Standsicherheit nach heutigen Vorgaben nachgewiesen werden.
Diese umfangreichen Voruntersuchungen bildeten die
Grundlage für das Instandsetzungskonzept. Gemeinsam mit dem Tiefbauamt des
Landkreises Unterallgäu, dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, der
bauausführenden Firma und dem beauftragten Ingenieurbüro war die Zielsetzung
für das Projekt definiert: Mit modernster Technik so viel Altes wie möglich zu
bewahren und die Illerbrücke Illerbeuren denkmalgerecht und bautechnisch
langfristig zu schützen und zu erhalten.
Dieser Ansatz bedeutet zudem eine besondere Nachhaltigkeit, denn das über hundert Jahre alte Baudenkmal kann ohne großen Unterhaltungsaufwand seine Funktion in den nächsten Jahrzehnten weiter erfüllen.
Im ersten Bauabschnitt erfolgte der Rückbau des Brückenbelages und des alten Fahrbahntrogs, auch um Gewicht von der Brücke zu nehmen. Aus der statischen Nachrechnung und zur Verbesserung der Robustheit ergab sich die Notwendigkeit, das Scheitelgelenk und die beiden Kämpfergelenke mit eingeklebten Gewindestangen zu verstärken. Danach wurde ein neuer Stahlbeton-Fahrbahntrog mit 4,60 m breitem Querschnitt hergestellt. Eine neue Abdichtung und Entwässerung sorgen für den Schutz der historischen Substanz. Die zerstörten Konsolköpfe wurden nachgebildet und neu eingebaut, das historische Brückengeländer behutsam entfernt, denkmalgerecht aufbereitet und mit neuen Verankerungen montiert. Um den Sicherheitsanforderungen gerecht zu werden, erhielt das Geländer ein kaum wahrnehmbares Drahtseilnetz.
Der zweite Bauabschnitt stand weitgehend im Zeichen der umfangreichen Instandsetzung des Stampfbetons. Das für diese Arbeiten und die weiteren Instandsetzungen verwendete, aus mietbaren Systemteilen hergestellte Rollgerüst ermöglichte einen einfachen und flexiblen Zugang zu allen Bauteilen und trug damit zum wirtschaftlichen und effizienten Arbeiten bei.
Für dieses spezielle Bauwerk wurden in enger Abstimmung mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege bereits im Jahr 2015 Musterflächen hinsichtlich Optik und Technik für das auszuwählende Instandsetzungsmaterial angelegt, beobachtet und bewertet. Die poröse Struktur des Stampfbetons ist nicht mit aktuellen Betonen vergleichbar, weshalb für die Instandsetzung verschiedene Varianten mit unterschiedlichsten Materialparametern in Langzeitversuchen untersucht wurden. Mit insgesamt sieben Produkten von vier Herstellern wurde getestet, bis das geeignetste Material gefunden war.
Der Brückenbogen, als wichtigstes tragendes Bauteil, erhielt an der Oberseite eine hinterlüftete Kupferverblechung, um das Bauwerk langfristig vor Feuchte zu schützen. Zum Ende der Instandsetzung wurden alle Sichtflächen mittels Niederdruck gestrahlt, um Schmutz zu entfernen und eine größtmögliche optische „Einheit“ zu erhalten.
Der Ansatz, das über 115 Jahre alte Bauwerk durch Instandsetzungsmaßnahmen einer weiteren langfristigen Nutzung zuzuführen, kann als wesentlicher Beitrag zur Nachhaltigkeit betrachtet werden. Der Erhalt des Bauwerks für weitere Jahrzehnte trägt direkt positiv zur Einsparung von grauer Energie und Treibhausgasen bei. Es konnten so unter anderem der komplizierte Abbruch, Abtransport und Entsorgung von rund 2.400 m³ Bestandsbeton vermieden und allein daraus 700 t CO2 eingespart werden. Zusätzlich ergab sich eine CO2-Vermeidung, da auf die bei einem Neubau notwendig gewordene Herstellung, Transport und Einbau neuer Baustoffe komplett verzichtet werden konnte.
Während der gesamten Arbeiten wurde im Sinne einer nachhaltigen
Kreislaufwirtschaft besonders darauf geachtet, möglichst alle bestehenden
Bauteile wiederzuverwenden. So konnten die Kämpfer, der Hauptbogen und die
Entlastungsbögen mit Brückentafel weiterverwendet werden. Ebenso wurde das
ursprüngliche Geländer aufgearbeitet und wieder eingebaut. Lediglich die stark
verwitterten Konsolköpfe und der Fahrbahntrog mussten neu hergestellt werden.
Die Illerbrücke Illerbeuren ist ein prägendes Element in der Unterallgäuer Kulturlandschaft. Ihre kulturgeschichtliche Bedeutung wurde 2019 im Rahmen zweier Sonderausstellungen und einer Kabinett-Ausstellung gewürdigt. Die vom Schwäbischen Bauernhofmuseum Illerbeuren in Kooperation mit dem Landratsamt Unterallgäu kuratierte Ausstellung „Bitte einsteigen! Ausstellung rund um die historische Illerbrücke“ widmete sich - inklusive einer Broschüre und begleitet von großem Besucherinteresse - der Verkehrsgeschichte der jüngeren Vergangenheit.
Aus einer unscheinbaren und nur noch bedingt tragfähigen Brücke ist ein Schmuckstück entstanden, das heute von vielen Wanderern und Radfahrern genutzt wird. Die Brücke ist Bestandteil des beliebten 146 km langen Illerradwegs von Oberstdorf nach Ulm. Außerdem hat der Landkreis Unterallgäu das Leader-Projekt Erlebnisraumgestaltung „Glückswege“ initiiert. 14 Glückswege (11 Wander-, 3 Radwege) sollen die Region auf besondere Weise erlebbar machen.
Eine Station ist dabei auch die um interessante Schautafeln ergänzte historische Illerbrücke, die zum Verweilen und Staunen einlädt. Beim Festakt zur Wiedereröffnung der Brücke am 28.05.2019 beschrieb Landrat Hans-Joachim Weirather die Brücke als Baudenkmal von internationaler Bedeutung und als einen touristischen Höhepunkt im Unterallgäu.
Autoren:
Rainer Böhme und Norbert Nieder sind Mitglied der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau. Rainer Böhme ist Bereichsleiter Ingenieurbau Diagnostik
& Instandsetzung bei der Konstruktionsgruppe Bauen AG. Norbert Nieder ist Vorstandsmitglied der Konstruktionsgruppe
Bauen AG
Fotos: Eva Bartussek, Bayerische Staatszeitung, Eva Bartussek, Landratsamt Unterallgäu, Archiv und Konstruktionsgruppe Bauen, Christoph Krah, Eva Bartussek, Werner Brüchle
Mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Staatszeitung.
Einmal im Quartal erscheint ein ganzseitiger Artikel über ein Projekt eines Mitgliedes der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau in der Bayerischen Staatszeitung. Auch Ihr Projekt kann dabei sein!
Alles,
was Sie tun müssen, ist eine Mail an Sonja Amtmann, Pressereferentin
der Kammer, zu schicken und kurz zu skizzieren, welches Projekt Sie
gerne vorstellen möchten und was Ihr Projekt ausmacht.
Es gibt keinerlei
Begrenzungen hinsichtlich des Fachgebietes. Auch kann das Bauvorhaben
an jedem beliebigen Ort der Erde realisiert worden sein.
Einzige
zwingende Voraussetzung ist, dass der Autor des Artikels Kammermitglied
ist und das Projekt möglichst nicht älter als fünf Jahre ist.
Wenn noch Fragen offen sind...
...
hat Sonja Amtmann, die Pressereferentin der Kammer, stets ein offenes
Ohr für Sie. Rufen Sie an unter +49 (0) 89 419434-27 oder schicken Sie eine
E-Mail an smtmnnbykd.
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