06.08.2021 - München
Extremwetter in Mitteleuropa: Hochwasser, Sturzfluten, Sturmfluten, Dürre, Starkstürme und Tornados, Hagel. Gebaute kritische Infrastrukturen und Gebäude weggerissen, als wären sie aus Nicht-Materie - und unfassbar viele Tote. Kammerpräsident Prof. Dr. Norbert Gebbeken beschäftigt sich in der aktuellen Kolumne in der Bayerischen Staatszeitung mit diesen Extremwetterereignissen und der Verantwortung der Ingenieure für den Schutz der Menschen und Infrastrukturen.
Vor knapp 50 Jahren saß ich in der Wasserbauvorlesung und lernte, dass wir das Wasser bändigen müssen; kanalisieren, begradigen, Ordnung in die Natur bringen. Zur selben Zeit wurde der Club of Rome gegründet und ich las von Meadows et al. das Buch „Grenzen des Wachstums“. Ich zweifelte an der Technik und belegte im Studium Generale das Fach Ethik.
50 Jahre später – noch nie erfahrene Extremwetter in Mitteleuropa: Hochwasser, Sturzfluten, Sturmfluten, Dürre, Starkstürme und F4-Tornados, Hagel. Gebaute kritische Infrastrukturen und Gebäude, weggerissen, als wären sie aus Nicht-Materie. Die Toten – unfassbar viele. Und eine banale Erkenntnis: Die Natur verhält sich natürlich. So bitter das für uns Menschen sein mag.
50 Jahre „Grenzen des Wachstums“ und immer noch ist der Erfolg aller Volkswirtschaften geprägt vom grenzenlosen Wachstum. Fragen: Warum haben wir die Studien nicht ernst genommen? Wie kommt es zu Katastrophen? Leben wir im Einklang mit der natürlichen Natur? Sind wir überheblich und rücksichtslos gegenüber der Natur? Wiederaufbau. Wiederaufbau?
Wir Ingenieure können sturzflutsichere Häuser bauen, denen Unterspülungen nichts ausmachen. Technisch machbar. Aber sinnvoll? Allein die Kosten werden inakzeptabel. Im Zyklus des Katastrophenmanagements folgt auf die Bewältigung der Krise die Nachbereitung und die Prävention. Die Betroffenen benötigen schnelle Hilfe. Doch beim Wiederaufbau der technischen (kritischen) Infrastruktur und der Gebäude sollten wir uns Zeit nehmen.
Wenn wir klug sind, dann sollten wir Menschen und Infrastruktur nach der Krise besser schützen als vorher. Absolute Sicherheit gibt es nicht und wir wissen derzeit nicht hinreichend genau wie sich Wetterextreme in den nächsten Jahrzehnten entwickeln. Deshalb müssen wir eine Diskussion darüber führen, wie resilient unsere Gesellschaft sein soll. Das ist ein multidisziplinärer Diskurs, bei dem die Technik eine maßgebliche Rolle spielt. Denn nur die Technik kann sagen, was technisch machbar ist und was technische Resilienz kostet. Doch die Gesellschaft muss entscheiden, was akzeptabel ist.
Einerseits ist die Deregulierung gewünscht, um die Eigenverantwortung zu stärken. Das erfordert mehr Eigenkompetenz. Versagt die Eigenverantwortung, dann wird der Staat gerufen. Ist das die praktische Ausführung des Subsidiaritätsprinzips? Wir müssen uns also fragen, wieviel Eigenverantwortung wir tragen wollen und können.
Gerade im Bereich der Einschätzung von Risiken versagen wir Menschen. Ortwin Renn schrieb 2014 „Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“. Wir wägen uns in Sicherheit wo keine ist und fühlen uns unsicher in sicherer Umgebung. Die Transformation von der unsicheren Sicherheit zur sicheren Unsicherheit führt uns in die Risikogesellschaft. Und wir müssen uns fragen, wieviel Unsicherheit bzw. wieviel Sicherheit unsere Gesellschaft verträgt.
Holland sichert sich gegen eine hunderttausendjährige Sturmflut ab. Auch unsere deutschen Küstenregionen sichern sich zumindest gegen eine zehntausendjährige Sturmflut ab. Im Binnenland bleiben wir beim hundertjährigen Hochwasser, auch wenn in Fachkreisen darüber diskutiert wird, ob die Marke HQ100 nicht doch angepasst werden müsste. Wir haben keine hinreichenden Gefährdungskarten für Sturzfluten. F4-Tornados können überall in Deutschland auftreten und Verwüstungen anrichten. Brauchen wir deswegen zukünftig Schutzräume, wie sie in gefährdeten Gebieten der USA vorgeschrieben sind?
Technisch ist vieles möglich. Doch was wir jetzt benötigen, das ist eine breit angelegte Diskussion, die die Resilienz unserer Gesellschaft systemisch analysiert. Wir Ingenieure bringen uns hier ein. Auch in Zukunft müssen wir die Umwelt baulich gestalten. Nicht weil wir Ingenieure das wollen, sondern weil die Gesellschaft Bedarfe formuliert. Wir verstehen uns als Dienstleister an der Gesellschaft.
Kolumne von Prof. Dr. Norbert Gebbeken, Präsident der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau, veröffentlicht in der Bayerischen Staatszeitung vom 06.08.2021
Kolumne in der Bayerischen Staatszeitung
Die Bayerische Ingenieurekammer veröffentlicht einmal im Monat eine Kolumne zu aktuellen Themen in der Bayerischen Staatszeitung. Hier nehmen die Mitglieder des Vorstands der Kammer Stellung zu Themen aus Bauwesen, Politik und Gesellschaft.
Hier haben wir Ihnen alle Kolumnen zum Lesen oder als Download bereitgestellt.
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