20.01.2021 - München
Unter dem Motto "Die Kraft der Veränderung nutzen" spannte Kammerpräsident Prof. Dr. Norbert Gebbeken in seiner Rede beim 29. Bayerischen Ingenieuretag am 15. Januar 2021 einen weiten Bogen von den Auswirkungen der Corona-Pandemie bis zur Frage der Verantwortung der Ingenieure als Gestalter der Gesellschaft. Lesen Sie hier die Rede im Wortlaut oder sehen Sie sich die Rede auf YouTube an und erfahren Sie, was wir auch heute noch von der aktiken Philosophie lernen können.
Rede von Prof. Dr. Norbert Gebbeken beim 29. Bayerischen Ingenieuretag am 15.01.2021
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Sehr
geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
bei unserem letzten Ingenieuretag vor einem Jahr gab uns der ehemalige Benediktinermönch Anselm Bilgri die Empfehlung, das Jahr 2020 mit heiterer Gelassenheit anzugehen.
Ein Rat, mit dem wir wenige Wochen später nur noch schwerlich umgehen konnten.Zu lange haben wir Anfang 2020 in der westlichen Welt geglaubt, wir seien sicher. China ist weit weg. Wir dachten, unsere Welt sei eher beständig. Unser Staatswesen, unsere Wirtschaft, unser Gesundheitssystem und unsere Kultur, all dies sei resilient, berechenbar und beherrschbar.
Doch dann. Mit einem Schlag veränderte sich alles. Ein kleines Virus, aufgetaucht in Wuhan, hält das menschliche Leben auf der ganzen Welt an. Und uns wird schlagartig klar, dass die Natur für uns Überraschungen bereithält. Wir haben das Gefühl, vollständig entmachtet zu sein. Dabei hatten wir doch gerade deutlich gemacht, dass wir unsere Umwelt gestalten. Und nun zwingt uns das Corona-Virus unser Handeln auf.
Eine solche Pandemie hatten wir nicht auf dem Schirm, obwohl im Bundestagsbericht 2012 zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz eine „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ unter Federführung des Robert-Koch-Institutes vorgestellt worden war. Wie also müssen wir uns zukünftig verhalten, wenn wir wissen, dass die Natur Überraschungen für uns bereithält, auf die wir nicht oder nicht genügend vorbereitet sind?
Die Natur lässt sich nicht beherrschen. Wir können nur mit ihr und in ihr gestalten und versuchen, die Natur zu verstehen. Die Natur verhält sich immer natürlich, global.
Corona zeigt uns unsere Grenzen auf. Corona zeigt uns aber auch, dass gebildete resiliente Gesellschaften klug reagieren und gestalten können, selbst bei einem aufgezwungenen Veränderungsdruck.
Ohne Veränderungen gibt es keine Zukunft, doch gerade in den letzten Jahren empfinden wir Ingenieure einen sich beschleunigenden Veränderungsdruck durch:
Das sind auch ohne Corona schon große Herausforderungen.
Doch schauen wir auf die vielen positiven Entwicklungen infolge von Corona. In vielen Bereichen hat der Schock des ersten Lockdowns erstaunlich viel kreative Energie freigesetzt.
Zum Beispiel hat die Digitalisierung einen ungeheuren Schub erlebt. Ohne sie hätten wir den Lockdown wirtschaftlich kaum überlebt. Mobiles Arbeiten und Online-Konferenzen sind machbar.
Ein weiterer positiver Aspekt des Jahres 2020 ist, dass wir die soziale Nähe und die Präsenz nun besonders zu schätzen wissen.Der Mensch ist ein soziales Wesen, irgendwie ein Herdentier. Kein digitales soziales Netzwerk kann das physische soziale Netzwerk ersetzen.
Viele Menschen haben sich die Frage nach dem Sinn ihres Lebens und ihrer Arbeit neu gestellt. Alte Gewohnheiten sind plötzlich verschwunden, neue entstanden. Glück und Sinn scheinen viel näher beieinander zu liegen als gedacht. Der Sinn des Lebens ist nicht auf unsere persönliche Existenz und ihre aktuellen Nöte beschränkt.
Ein erstes Fazit könnte an dieser Stelle lauten: Die Bedingungen für Veränderung waren noch nie so günstig wie in diesen Zeiten. Wir werden geradezu dazu gezwungen.
Warum also die Kraft der Veränderung nicht aktiv für unser Leben und Arbeiten nutzen? In diesem Jahr werden sich unsere Prioritäten weiter verschieben. Viele werden sich fragen:
Diese Fragen müssen wir uns auch als Ingenieure stellen. Indem wir die Umwelt nachhaltig baulich gestalten, gestalten wir immer auch die Gesellschaft. Wir müssen uns also der großen Verantwortung bewusst sein, die wir als Ingenieure haben. Dazu gehört auch Integrität. Doch in der Praxis erleben wir immer wieder die Diskrepanz zwischen Denken, Sagen und Handeln. Verstecken wir uns nicht oft hinter Lippenbekenntnissen? Sind die Begriffe so unscharf und damit deutungsfähig?
Fragen über Fragen, die jeden Berufseid oder Moralkodex Beliebigkeit werden lassen. Wir müssen also bekennen und uns an unseren Worten und Taten messen lassen.
Wenn wir uns fragen, was Verantwortung und Ethik für uns bedeuten, dann werden wir bei Max Weber fündig, dem Nestor der deutschen Soziologie. Weber unterscheidet zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik.
Max Weber weist darauf hin, dass Verantwortungsethik und Gesinnungsethik möglichst miteinander in Einklang gebracht werden sollten.
Darf ich nun, wenn ich ein strenger vegetarischer Ingenieur bin, einen Mastviehstall mit realisieren, der nicht dem Tierwohl dient? Oder legt mir die Verantwortungsethik auf, den Mastviehstall so sicher zu bauen, dass durch das Gebäude „Stall“ kein Schaden für Tiere und Menschen entstehen kann? Militante Tierschützer berufen sich auf die Gesinnungsethik, selbst wenn sie sich strafbar machen. So divergent kann Ethik sein.
Die Verantwortung für technische Projekte gehört im Sinne von Max Weber zur Verantwortungsethik, nicht zur Gesinnungsethik. Das darf aber nicht dazu führen, dass die Verantwortungsethik zum Freibrief für Ingenieure wird.Welche Rolle nehmen die Ingenieure in einer Gesellschaft ein, die sich permanent und immer schneller ändert, getrieben wesentlich von neuen Technologien, der Wirtschaft, der Politik und damit eigentlich von der Gesellschaft?
Gerade wir Bauingenieure legen die baulichen Infrastrukturen auf eine Lebensdauer von 50 bis 200 Jahren aus. Dadurch ergibt sich eine besondere Verantwortung im Hinblick auf die Technikfolgenabschätzung. Technologien können sich schnell ändern, bauliche Infrastrukturen nicht.
Die deutschen Ingenieure sind als Gestalter des Fortschritts weltweit geschätzt.
Darauf können wir stolz sein. Wir tragen mit unseren Leistungen große Verantwortung für das Gemeinwesen, für den Erhalt der Umwelt und unserer Lebensgrundlagen, für eine funktionierende Infrastruktur und für die Qualität, Sicherheit und Nachhaltigkeit von baulichen Anlagen.
Die Verantwortung der Ingenieure ist so enorm und wir haben eine weltweit geschätzte Kompetenz, dass wir uns gesellschaftspolitisch zu Wort melden müssen. Dabei müssen wir verständlich und bürgernah kommunizieren. Wenn uns das gelingt, dann können wir auch die positive Wahrnehmung unseres Berufsstandes stärken.
Was wird uns das neue Jahr bringen? Sicher ist die Unsicherheit. Da sind wir doch Spezialisten, wenn es darum geht, Unsicherheiten in Sicherheiten zu verwandeln. Das können wir. Mit Inkrafttreten der neuen HOAI zum 1. Januar 2021 haben wir es auch mit Unsicherheiten zu tun, und es wird sich zeigen, ob wir eine Solidargemeinschaft sind, um Sicherheit für uns Ingenieure zu erreichen.
Partnerschaftlich planen und bauen, den Fokus auf Leistung und Qualität legen, das wird wichtiger denn je. Damit kommt der Kalkulation der eigenen Angebote eine noch größere Bedeutung zu.
Jetzt muss für uns alle gelten, dass wir uns nicht in einen ruinösen Preiskampf hineinziehen lassen, sondern den angemessenen Wert der eigenen Leistung selbstbewusst vertreten. Siegt die Mikroökonomie über die Makroökonomie? Handeln wir betriebswirtschaftlich nachhaltig? Nachhaltig für wen?
Im Spannungsfeld von politischen Vorgaben und technischen Realisierungsmöglichkeiten bietet die zunehmende Komplexität des Planens und Bauens große Chancen für die interdisziplinäre und partnerschaftliche Zusammenarbeit.Ein Ziel der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau ist es deshalb, einen vertrauensvollen und partnerschaftlichen Umgang en miteinander zu kultivieren und zu unterstützen. Partnerschaftliches „Planen und Bauen“ ist eines der wichtigsten Ziele für die zukünftige Kooperation am Bau.
Gerade die Baubranche kann einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und zum Erhalt von Biodiversität leisten. Wir kennen Lösungen, um auf schon existierende Probleme wie vermehrtes Hochwasser baulich zu reagieren. Und wir können Bauwerke so modernisieren oder neu bauen, dass der Ressourcenverbrauch deutlich geringer ist als bislang.
Zukunftsweisend planen, nachhaltig bauen, CO2 vermeiden. In unserer Ende 2020 veröffentlichten Klimaschutzerklärung zeigen wir, welchen Beitrag die bayerischen Ingenieure zu einem nachhaltigen Umgang mit der Umwelt leisten. Unser oberstes Ziel ist es, die gebaute Umwelt gesund, bezahlbar, ökologisch und ressourcenschonend zum Wohle aller zu gestalten. Mit unserer Expertise können wir Klimaschutz, Technologie und Wirtschaftlichkeit zur Zufriedenheit möglichst vieler zusammenführen.
Die Nachhaltigkeit ist auch unserem Arbeitskreis „Junge Ingenieure“ wichtig, ebenso wie die Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Die Motivation unserer Mitarbeiter ergibt sich nicht vorrangig aus dem Gehalt, sondern aus dem Sinn. Das ist ein Ergebnis der Umfrage des Arbeitskreises.
Der Mitarbeiter selbst ist ja der Leistungsträger. Ausschlaggebend für seine Leistung ist einerseits seine Kompetenz.Doch andererseits muss zum Können und Wollen das Dürfen kommen. Das heißt im Umkehrschluss, wenn der könnende Mitarbeiter will aber nicht darf, dann gibt es keine guten Ergebnisse und auch keine Leistungssteigerung.
Fachleute streiten trefflich darüber, ob Motivation intrinsisch oder extrinsisch ist, also im Inneren eines Menschen in ausreichendem Maße vorkommt oder von außen befeuert werden muss.
Einflussfaktoren auf intrinsische Motivation sind Selbstbestimmung und Sinnerfüllung. Personen, die aus intrinsischer Motivation handeln, sind im Vergleich mit extrinsisch motivierten Personen zufriedener, sie genießen den Weg, verfolgen Ziele hartnäckiger, freuen sich mehr über das Erreichen eines Zieles und kommen besser mit Misserfolgen zurecht.
In der Praxis benötigen wir eine gesunde Mischung aus intrinsischen und extrinsischen Faktoren. Hier möchte ich den Neurobiologen Joachim Bauer zitieren:
„Ein zentrales, neurobiologisch begründetes Motiv für die Bereitschaft des Menschen, zu arbeiten, ist der Wunsch nach direkter oder indirekter Anerkennung. Geld kann nur begrenzt leisten, was soziale Anerkennung, Wertschätzung und ein gutes Arbeitsklima vermögen: das Motivationszentrum des Menschen und die Ausschüttung seiner Motivationsbotenstoffe in Fahrt zu bringen.“
Ein Mitarbeiter möchte, dass der Chef die Arbeit auch würdigt und wertschätzt. Es geht also immer wieder um Wertschätzung. Das ist fast immer Thema bei Personalgesprächen.
Für Leistung, Lernen und das Meistern von Herausforderungen werden wir belohnt. Und zwar mit einer natürlichen Droge, dem Dopamin. Das Glückshormon Dopamin befeuert Arbeitsfreude, Wagemut und Leistungskraft. Es stärkt unser Immunsystem und schützt die Unternehmen so vor hohen Krankenständen.
Der Schweizer Medizinsoziologe Johannes Siegrist konnte nachweisen, dass eine Dysbalance zwischen Verausgabung und Wertschätzung am Arbeitsplatz zu erhöhten Gesundheitsrisiken führt.
In Kursen für Führungskräfte werden tatsächlich „Lobtage“ empfohlen. Freitag 10 Uhr: Loben! So wird Lob zur Pflichterfüllung. Das merken Mitarbeiter sofort. Von Herzen loben, spontan – nur das ist natürlich.
Die Wahrheit ist doch: wir wissen nie, warum ein Mensch das tut, was er tut, ohne ihn gefragt zu haben. Dazu braucht es gegenseitiges Vertrauen.
Unabhängig vom speziellen Fachgebiet sollten wir bei unserem Gegenüber herausfinden: Was ist für dich als Mensch wichtig? Worum geht es dir eigentlich im Unternehmen? Wenn wir unsere Mitarbeiter als Menschen verstehen, dann blühen sie möglicherweise auf.
Lassen Sie uns also lieber auf das hinarbeiten, was man in der antiken Philosophie als Eudaimonie bezeichnet - eine gelungene Lebensführung und der damit verbundene ausgeglichene Gemütszustand. Die Kernelemente der Eudaimonie sind Authentizität, Sinn, Exzellenz und Entwicklung.
Ein Appell an uns Führungskräfte: Suchen wir danach, was unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufrieden macht und bringen das in Einklang mit den betrieblichen Erfordernissen. Denn darin liegt der Schlüssel zum Erfolg.
Und wenn wir etwas aus der Geschichte der letzten 2.500 Jahre lernen können, dann, dass wir Veränderungen gelassen begegnen sollten.Wie aber soll man gelassen bleiben in einer total überdrehten, krisengeschüttelten Welt? In einer Welt, in der wir uns keine Rast gönnen, die uns beständig neue Anpassungsleistungen aufbürdet? Wer es gelernt hat, aus Niederlagen und Problemen zu lernen, der geht mit erneuten Herausforderungen gelassener um.
Das wussten schon die Stoiker: Veränderung braucht Gelassenheit - und Gelassenheit lässt sich trainieren. Als höchstes Gut galt dem Stoiker Seneca die Tugend als unabdingbare Grundlage und Begleiterscheinung der heiteren Gelassenheit und der Seelenruhe, der stoische Inbegriff menschlichen Glücks. Die Menschen sollen ein Leben nach den Gesetzen der Natur führen und dabei zwischen dem unterscheiden, was unabwendbar ist, und den Dingen, auf die der Mensch Einfluss nehmen kann.
Deswegen fordere Seneca die Menschen dazu auf, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen und selbstlos soziale Aufgaben zu übernehmen:
„Wir sind nun mal zur Gemeinschaft geboren. Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Gebäude aus Stein, das einstürzen würde, wenn sich die einzelnen Steine nicht gegenseitig stützen würden … Es kann niemand ethisch verantwortungsvoll leben, der nur an sich denkt und alles seinem persönlichen Vorteil unterstellt. Du musst für den anderen leben, wenn du für dich selbst leben willst.“
Also nehmen wir uns Zeit. Für unsere Mitmenschen - aber auch für uns selbst und für unseren ganz persönlichen Veränderungsprozess.
Und damit schließt sich der Kreis. Um mit Anselm
Bilgri und den antiken Stoikern zu sprechen, wünsche ich uns für 2021 vor allem
eines:
Gelassenheit! Und wann immer es geht mit Heiterkeit.
Download
Rede von Prof. Dr. Norbert Gebbeken beim 29. Bayerischen Ingenieuretag am 15.01.2021
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